Heute möchte ich wieder etwas rein Persönliches mit Ihnen teilen.

An meinem letzten Urlaubstag am 1. Oktober in diesem Jahr wanderte ich ein wenig im Harz. Allein. Meine Frau arbeitete nach unserem gemeinsamen Urlaub bereits wieder.

Der Weg mit dem Auto zwischen zwei Zielen führte mich zu einem historischen Ort. Historisch für die deutsche Geschichte, historisch aber auch für mich persönlich.

Der Fahrweg von Ilsenburg nach Bad Harzburg führte mich zu einem der Orte der Grenzöffnung 1989 im Harz und einem anschließend dort eingerichteten Grenzübergang zwischen den damals noch bestehenden beiden deutschen Staaten. Der ehemalige Grenzübergang Eckertal/Stapelburg. Östlich Bad Harzburg. Das Foto im Titel zeigt mich an der dortigen Gedenktafel.

Von 1987 bis 1998 war mein Beruf der des Polizeibeamten im Bundesgrenzschutz, der heutigen Bundespolizei. Nach meiner erfolgreichen Berufsausbildung absolvierte ich meinen Dienst in einer Einsatzhundertschaft mit Standort Goslar im Harz. In meinem Werdegang und in diesem Blogartikel habe ich Ihnen bereits kurz skizziert, was damals neben der Grenzsicherung meine Aufgaben waren.

Es war der historische 9. November 1989.

Ausgerechnet an diesem 9. November 1989, an dem die DDR ihren Bürgerinnen und Bürgern ziemlich plötzlich und „sofort, mit sofortiger Wirkung“ die Reisefreiheit ermöglichte, war ich damals zu einer bundesweit wirksamen Rufbereitschaft eingeteilt. Zum Zeitpunkt der Dienstplanaufstellung hatte niemand eine leise Ahnung, was an diesem 9. November passieren würde. Gerade hatte ich meine Ausbildung beendet und wurde wenige Tage später erst 20 Jahre alt.

Ich war also an diesem historischen 9. November 1989 Teil einer sofort bundesweit verfügbaren und einsatzbereiten polizeilichen Reserve, die pauschal dafür aufgestellt wurde, damit bundesweit sofort Polizeikräfte zur Verfügung stehen, wenn sich plötzlich ein Anlass ergibt.

Wir, die in Bereitschaft waren in Goslar, alles junge Männer, schauten halbwegs gelangweilt in einer Zeit vor Internet und Smartphone zusammen die Nachrichten. Viel mehr konnten wir nicht tun in der damaligen Zeit, wir mussten ja im Alarmfall SOFORT einsatzbereit sein.

In diesen Nachrichten erfuhren wir, dass offenbar augenblicklich nicht weniger als damals 17 Millionen Ostdeutsche die sofortige Reisefreiheit erlangten. Reisefreiheit, in einem Jahr 1989, als final über Ungarn, die Tschechei und aufwändigere Wege tausende DDR-Bürger zu Hause alles liegenließen und nach Westen flüchteten.

Ein Alarm der Polizeikräfte des Bundes erfolgte sehr bald. Was passierte jetzt? Kommen nun plötzlich 17 Millionen Menschen an die Grenzen, nachdem es vorher tausende Wagemutige versucht haben und nun keine Repressalien des DDR-Regimes mehr zu befürchten sind? Niemand wusste es. Niemand in West- und Ostdeutschland konnte wissen, was jetzt passiert.

Um es zusammenzufassen: Für uns in Goslar und im Harz blieb es nach meiner Erinnerung zunächst ruhig ohne wirklich relevante Vorkommnisse.

Aber dann, zwei Tage später am 11. November 1989, kam es zur Öffnung des Eisernen Vorhanges, der Deutschland und Europa viele Jahre teilte, in Eckertal bei Bad Harzburg. Unserem sachlichen und räumlichen Zuständigkeitsbereich.

Ich selbst hatte erst wieder Dienst am 12. November. Als junger Mann war ich eingeteilt als Fahrer unseres diensthabenden Offiziers. Also des im Dienst befindlichen ranghöchsten Grenzschützers aus Goslar an dem Tag.

Wir fuhren nach Eckertal, um ein Bild der Lage zu gewinnen. Es führt hier nun zu weit, alles von diesem Tag dort zu erzählen. Glauben Sie mir, uns war allen bewusst, hier wird gerade mindestens deutsche Geschichte geschrieben. Und wir sind direkt dabei. Und wir sind zuständig für das, was hier gerade passiert im Weltgeschehen. Aber welche Auswirkung in der Weltpolitik der damaligen Jahre all dies haben sollte, konnte an diesem Tag niemand erahnen.

Die Geschichte nahm ihren Lauf.
Im Winter 1989/1990 absolvierte ich überwiegend meinen Dienst am Grenzübergang Eckertal/Stapelburg. Er war sehr stark frequentiert. Die Staus der Trabis mit ihrem Zweitakt-Gestank bauten sich tatsächlich an manchen Tagen beidseitig auf Kilometer auf.

Wir sprachen mit den Menschen. Erlebten Schicksale. In Erinnerung ist mir ein Trabi mit Kennzeichen aus dem Raum Dresden, dem „Tal der Ahnungslosen“, wie es damals hieß, da Westfernsehen und Radio dort angeblich nicht empfangen werden konnte.

Hinten drin im engen Trabi eine alte Dame. Der Fahrer erzählte mir, dass sie sich nach dem Mauerbau nicht vorstellen konnte, jemals wieder den Westen besuchen zu können. Nun, auf der vermeintlichen Zielgeraden ihres Lebens, war urplötzlich der Spuk vorbei. Die Familie quetschte die alte Dame in den Trabi und fuhr über unser Eckertal in den Westen. Nur, um hier einen Kreis zu drehen mit Omma, damit sie das vor ihrem Lebensende nochmal erleben durfte. Wer wusste damals schon, ob die Grenzen offenbleiben? Die alte Dame sollte die Chance des Westens vor ihrem irgendwo ja in Sicht stehendem Tod nochmal erleben.

Ist das eine Kleinigkeit? Nein! Es berührte mich erheblich und ich werde das nie vergessen!

In diesem Winter an diesem Grenzübergang erlebte ich viele Geschichten, die ich nie vergessen werde. Sie passen hier in ihrer Menge einfach nicht rein. Wenn es Sie interessiert, sprechen Sie mich an, wenn Sie mich treffen. Oder rufen Sie mich an, wenn es Sie dringend interessiert (05065-801-21).

Jetzt, an meinem letzten Urlaubstag, fuhr ich über diesen ehemaligen Grenzübergang. Nach meiner Erinnerung in diesen 36 Jahren das erste Mal mit zeitlicher Gelegenheit zum Anhalten. Und das tat ich. Ich hielt an und stieg aus. Zum ersten Mal seit 36 Jahren stand ich auf der Straße von damals. An das Haus, welches damals flugs zu Dienstgebäude gemacht wurde, erinnere ich mich klar. Sie sehen es oben links im Bild.

An mein Handeln inmitten der Straße im Kontrolldienst erinnere ich mich ebenso. An die schräge Situation, teilweise die Kaffeemaschine mit Angehörigen der DDR-Grenzpolizei geteilt zu haben, die uns wenige Tage vorher noch Spinnefeind waren und nun von heute auf morgen mit uns zusammen Dienst versahen.

Ich ging dort heute eine zeitlang umher und ließ die Erinnerungen an diese Zeit vor 36 Jahren zu. Deutsche Geschichte, und meine Kollegen und ich waren Teil davon. Aus der Zeit vor der Digitalfotografie habe ich keine eigenen Bilder. Vor Ort ist eine Schautafel eingerichtet. Bilder habe ich natürlich im Kopf.

Was nehme ich mit aus der damaligen Zeit?

Ich habe beruflich bedingt viele Menschen erlebt, die zu Hause alles liegenlassen haben, um unter allerhöchster Lebensgefahr in den Westen zu fliehen. Nach dieser bewegten Zeit 1989 erlebte ich das später mit Flüchtlingen aus aller Welt Mitte der 90er in anderer Form nochmal.

1989 waren die Gründe von Bürgern eines deutschen Staates zur Flucht so gross, dass sie Lebensgefahr auf sich nahmen, um diese zu ermöglichen. Es war ihre Entscheidung, ihre Abwägung zwischen Freiheit und weiter Leben im Unrechtsstaat. Sie entschieden sich nach Abwägung für die Lebensgefahr und machten sich auf den Weg. Ab dem 9. November 1989 dann legitimiert.

36 Jahre später sind weltweit mehr Menschen auf der Flucht als jemals zuvor. Sie alle haben ihre Gründe dafür. So wie Deutsche damals ihre Gründe hatten. Vor 36 Jahren. Flüchtlinge aus einem deutschen Staat in den anderen. Man stelle sich das vor.

Wir feiern nun am 3. Oktober den Tag der Deutschen Einheit.

Jüngere haben zwangsläufig keine Erinnerung an damals. Sie haben aber die Chance, sich über ihre Schulbildung hinaus zu informieren, was damals so fundamental die politische Welt umwälzte. Hier in Deutschland.
Diejenigen, die altersbedingt so wie ich Zeitzeugen waren, mögen sich erinnern an das, was damals war. Wissen Sie noch? Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Welt entwickelten sich schnell politische Partnerschaften zwischen Ost und West. Es schien, als lebte die nahezu komplette Welt nun in Freundschaft. Das losgelöste Partygefühl der 90er ist vielleicht eine Folge davon gewesen und vielen von uns noch in Erinnerung. Was für eine aufregende Zeit.

„I follow the Moskva, down to Gorky Park“, sang die deutsche Rockband Scorpions. Sie haben den Song sofort im Ohr. Vielleicht sogar mehr diesen Beginn dessen, als den Titel „Wind of change“.

Als ich heute nachdenklich auf der Straße dort in Eckertal stand, erinnerte ich mich sehr deutlich an diese Zeit. Wer hätte damals gedacht, dass es zu dieser radikal plötzlichen teilweisen Vereinigung der politisch westlichen und östlichen Welt kommt. Und wer hätte in den 90ern gedacht, dass wir heute, 2025, rückwärts gerichtete politische Spannungen erleben, die diese 35 Jahre dazwischen in Teilen quasi ausblenden und in die Spannungen der Jahrzehnte davor zeigen?

Als ich als noch nicht 20-Jähriger damals in Eckertal am Grenzübergang auf der Straße stand und beruflich bedingt Teil der sich brachial ändernden deutschen Geschichte wurde, wusste ich wie alle anderen auch nicht, was mit Sicht von damals vor uns liegt.

Mit der Fähigkeit zum Rückblick ausgestattet sollten wir uns an die Zeit von damals erinnern. Jüngere Menschen können mit Zeitzeugen ins Gespräch kommen. Erinnern wir uns an den beidseitigen Drang zur Wiedervereinigung, der mit seinem Vollzug am 3. Oktober 1990 von Millionen auf beiden Seiten gefeiert wurde. Das damals Erreichte sollten wir heute auf keinen Fall in Frage stellen, sondern im Fall von Unzufriedenheit an einer gemeinsamen Lösung arbeiten.

Ich stand nun 2025 dort in Eckertal auf der Straße und erinnerte mich an die mir unbekannte alte Dame aus Dresden, die den Wunsch hatte, nur noch einmal ein vereintes Deutschland zu erleben. Er wurde ihr erfüllt.